KÖRPER/SPUREN/SPÜREN
poetische Fragmente aus meiner Dissertation (2024)
Anfang
Eine Stimme aus dem Halbschaf spricht:
Ab hier der Spur folgen. Meiner Spur. An den Innenwänden entlang. Durch die Windungen der Gedanken. Durch das Pochen der Eingeweide. Durch das Gewirr meiner Erinnerungen. Gleich einer Fährtenleserin, möchte ich mich in mir orientieren. Zunächst. Ich möchte mich erspüren. Reinspüren, entlang spüren, hindurch und inmitten sein. Empfindungen empfinden. Still sein. Wachsam sein. Mit geschlossenen Augen beobachten. Taktil werden. Mit Haut und Haaren, wie es so schön heißt. Atmung werden.
Die Spur liegt nicht offen vor mir, sie entwindet sich, entfaltete sich. Nach und nach. Ich erwarte nicht, dass sie geradlinig ist und ich hoffe, dass ich sie hier und dort verlieren werde. Neben der Spur finden sich oft die kuriosesten Dinge. Auch gehe ich davon aus, dass ich hin und wieder verloren gehe. Aber das kann jetzt noch niemand wissen.
Noch ist es hell. Noch finden meine Finger die Tastatur. Noch befinde ich mich auf der Oberfläche. Noch trage ich meine Brille. Ich sehe, was ich schreibe. Wenn ich die Brille abnehme, später, denn ich nehme sie immer ab, wenn ich nach Innen gehe, verlasse ich die Oberfläche und tauche unter.
Später.
Jetzt bin ich hier. Am Anfang. Von hier aus beginne ich mich zu orientieren.
Ich beginne mich zu erinnern.
1
„Kein Körper ist wie der andere Körper. Wir alle sind einzigartig bewegt.
Viele bewegen sich ähnlich. Einige bewegen sich wie keine.
Kein Körper bewegt sich nicht. Lebendig sind alle Körper.“
Schreibt Alice in den Sand, während Maxine einen Käfer beobachtet.
2
Alice übt sich im Schweben. Daneben steht Sara mit nackten Füßen in einer Matschpfütze.
„Ausrichtungen sind Bewegungen in die Welt hinein. Sie formen den Raum sowie die Körper. Du schwebst, deine Füße haben keinen Bodenkontakt. Das heißt, Füße und Boden bilden eine bestimmte Räumlichkeit aus“, sagt sie. „Richtet der Stand den Körper aus oder richtet sich der Körper im Stehen ein? Und stehe ich in der Luft, wenn ich keinen Boden unter den Füßen habe?“, fragt Alice. An ihren Sohlen bilden sich kleine Luftwurzeln. Sara macht knatschende Geräusche und sinkt ein weniger tiefer
3
Alice prüft mit ihrem rechten Zeigefinger die unterschiedlichen Zwischenräume ihrer Zehen.
Sara schaut ihr zu und sagt nach einer Weile: „Einrichten heißt bewohnen. Sind wir in uns eingerichtet, heißt das vielleicht,
wir bewohnen uns mit all unseren Gewohnheiten. Richte ich ein Zimmer ein, stelle ich Möbelstücke an einen bestimmten Platz. Den Tisch zur Wand, das Bett ans Fenster, den Sessel in die Mitte des Zimmers.
Die Bilder hänge ich an die Wand. So wie die Möbel stehen, so richte ich meinen Körper nach ihnen aus.
Ich laufe um den Sessel herum, schaue an die Wand oder liege im Bett. Wenn wir sagen, wir bewohnen unseren Körper,
dann heißt das, wir sind in ihm eingerichtet.“
Während Sara spricht, hüpft Maxine über imaginierte Möbel. Etwas außer Atmen sagt sie.
„Meine Organe haben einen bestimmten Platz, es gibt Zwischenräume, Hohlräume, Nachbarschaften. Knochen, die vertikal, horizontal oder spiralförmig in mir eingerichtet sind. Meine Zähne bilden eine Häuserreihe. Meine Augen liegen in Höhlen, mein Haar hängt herab. Meine Sinnesorgane sind Türen und Fenster zur Welt. 11 Millionen Sinneseindrücke dringen pro Sekunde in mich ein, circa 40 davon nehme ich bewusst wahr.“
Sara hebt den Blick zur Sonne und kneift die Augen zusammen.
Alice hat begonnen, in den Zwischenräumen ihrer Zehen zu wohnen.
4
„Ich falle aus mir heraus“, staunt Sara.
„Ich weiche von mir ab“, wispert Alice.
„Spurverlust ist Selbstverlust“, raunt Maxine und zieht ihre Brille aus.
5
„Wir werden teilweise mehr“, flüstert mir Alice zu
während sie in das Bild einstieg, das vor ihr liegt.
Zu sehen ist darauf ein Mädchen im rosafarbenen Balletttrikot.
Elsa macht es ihr nach und taucht in das Bild.